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Basale Stimulation: Beziehungen gestalten

In der Betreuung und Begleitung von Menschen mit schwerer zerebraler Störung, ob pflegerisch, therapeutisch oder medizinisch, ist oftmals schwer bis

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In der Betreuung und Begleitung von Menschen mit schwerer zerebraler Störung, ob pflegerisch, therapeutisch oder medizinisch, ist oftmals schwer bis gar nicht abzuleiten, in welcher Weise das Erlebte verarbeitet und zur Wirklichkeit für diesen Menschen wird. Ohne adäquate Reizantwort wird Verhalten meist als „typisches“ Symptom bei zerebraler Störung gedeutet. Dies wird nachvollziehbar, wenn man bedenkt, dass bei Patienten mit zerebraler Störung, häufig vergleichbare Symptome zu beobachten sind. Neurologische Forschungen lassen allerdings vermuten, dass dies einer sehr vereinfachten Betrachtung entspricht. Es wird vermutet, dass, je größer die zerebrale Störung ist, es umso mehr an Zeit braucht, um Reizverarbeitung (Reizerkennen und einordnen bzw. Bekanntem zuordnen) und letztendlich Reizbeantwortung, zu ermöglichen. Darüber hinaus ist anzunehmen, dass das zu erlebende Umfeld maßgeblich an der Reizverarbeitung beteiligt ist.

Annahmen im Konzept Basale Stimulation: Das Leben selbst wahrzunehmen, den eigenen Körper in Gegenwart zu spüren ist ein wesentlicher Schritt in der Entwicklung. In der Beziehung
lernt das Individuum sich seiner Selbst bewusst zu werden. (vgl. A. Fröhlich) Die Begegnung mit schwerstbetroffenen Menschen ist geleitet von der fragenden Haltung; welche Möglichkeiten hat dieser Mensch sich als Individuum, als Ich-Selbst in Wechselwirkung mit anderen wahrzunehmen?

Wenn „typische“ Symptome vermehrt auftreten, frage ich mich, handelt es sich um Symptome die u.U. eine medizinisch, medikamentöse „Antwort“ erfordern oder versucht dieser Mensch im Rahmen seiner Möglichkeiten Kontakt herzustellen.

Welche Fähigkeiten hat mein Gegenüber?

Ich versuche in Kürze, das für mich Prägnante in der Begleitung von J. herauszuarbeiten und erläutere die praktikable Umsetzung. Dabei ist mir der Zusammenhang von Selbstwahrnehmung zur Ich-Identität zur Begegnung mit dem Du wesentlich.

  • Diagnosen: Z. n. Subarachnoidalblutung; Mitralklappen Insuffizienz; Z. n. Herzstillstand mit erfolgreicher Wiederbelebung; Tracheostoma-Anlage; Krampfanfallsleiden.
  • Situations- und Umgebungsbeschreibung: J. lebt im häuslichen Umfeld. Sein Bewusstsein ist schwer einzuschätzen, da auf Reize keine adäquaten Antworten erkennbar sind. J. liegt meist im Bett, die Augen sind fast immer geschlossen, die Hände zu Fäusten angespannt, die Arme angezogen und besonders das rechte Beine vorwiegend in Streckung. Die Möglichkeit, über Sehen und Hören Informationen zum Umfeld zu erhalten, ist nicht gesichert. Bei der Versorgung sind immer wieder Überstreckung, starke Anspannungen und Myoklonien zu beobachten, insbesondere zu Beginn einer Tätigkeit. Unabhängig davon sind Unruhe, zerebrale Krampfanfälle mit starkem Sauerstoffabfall und Bradykardie vor allem bei längeren Ruhephasen vermerkt.
  • Beobachtung: Während den pflegerischen und therapeutischen Aktivitäten am Vormittag wird J. gut begleitet. Rituale zu Beginn und zum Ende von Tätigkeiten ermöglichen erkennbare Struktur und vermitteln Sicherheit. Es ist nicht erkennbar, wie J. die Situationen erlebt. Der Nachmittag verläuft eher ruhig. Trotzdem sind hier, wie oben beschrieben, Unruhephasen ohne wirklich erkennbare Ursache zu beobachten. „Ihm ist langweilig oder er braucht/will Aufmerksamkeit“ heißt es. Tatsächlich lässt die Unruhe nach, wenn man sich mit ihm beschäftigt, aber nur für kurze Zeit. Da keine adäquaten Reaktionen erkennbar sind, verbleiben Aktivitäten bei der Regulierung der Situation und beruhigendem einwirken.

Was will J. wirklich? Was braucht J. wirklich in diesem Augenblick? Über Fragen versuche ich Antworten für die Situationen zu finden. Was kann J. nicht? J. kann sich nicht sinngebende Informationen selbstbestimmt und selbstorganisierend zu sich, zur eigenen Person und zu seiner personellen wie materiellen Umgebung holen (ein elementares Bedürfnis und wesentlich für Entwicklung).

Kann nicht eigenständig die Position seines Körpers verändern. Kann nicht durch gezieltes tasten und greifen die Umgebung erkunden. Unbestimmtes Seh- und Hörvermögen schränken vermutlich weiter ein selbstbestimmtes Erleben der Umwelt insbesondere von Personen ein. (Die Umwelt ändert sich durch das Kommen und Gehen von Personen, durch Geräusche und Gerüche, welche interpretiert werden.) Kann nicht von sich aus, auf gesellschaftlich übliche Art und Weise, Kontakt mit Menschen herstellen. Kann sich nicht die Zeit, bei aufkommender Langeweile, vertreiben. J. kann sich nicht selbstständig und selbstbestimmt Kuscheleinheiten holen (als Oma erlebe ich gerade diese Bedeutsamkeit sehr intensiv).

Was kann J. Kann über Streckung und Anspannung seinen Körper spüren? J. kann über Veränderung der Atmung und spastische Muster Aufmerksamkeit auf sich lenken.
Was wünscht sich J. (ausgehend von einem elementaren zwischenmenschlichen Bedürfnis)? Wahrgenommen werden, Neugierde befriedigt bekommen, Wertschätzung und Anerkennung, Lob und ehrliche, offene Rückmeldung auf Bemühen Kontakt herzustellen.

Selbstwahrnehmung entwickeln

Ich breite auf dem Boden eine Decke aus und lege noch weitere kleine Kissen als Hilfsmittel bereit. Langsam lege ich J. in Rückenlage auf die Decke. Die Decke moduliere ich um den Kopf, Schultern und Arme entlang. Dann setze ich mich an das Fußende und umschließe mit meinen Beinen rechts und links den Körper. Ich nehme die Fußsohlen an meinem Oberkörper. Dies gibt J. die Möglichkeit, feinste Bewegung über Atmung und Vibration beim Summen, Brummen zu spüren. In dieser Position verbleiben wir eine Weile. Geben uns Zeit, sich gegenseitig zu spüren. Durch die Umgrenzung meiner Beine ist ein Spüren feinster Impulse von J. möglich und ich kann eine unmittelbare Antwort folgen lassen. J. entspannt. Im Weiteren schläft J. manchmal ein, ein andermal wirkt er ganz aufmerksam und ich kann weitere Angebote folgen lassen. Z. B. streiche ich nacheinander die Arme aus und bewege alle Gelenke bis zu den Fingerspitzen. Ich lasse Zeit um jede kleine geführte Bewegung und jede kleine Eigenbewegung zu erspüren. Bei Bewegungen mit Hilfe der Decke scheint J. „aufmerksamer“, als wenn ich Bewegungen mit meinen Händen durchführe. Das Medium Decke bietet Umgrenzung und wirkt zugleich Halt-Gebend. Es unterstützt die Entwicklung von der Selbst-Wahrnehmung zum Ich-Selbst zur Begegnung mit dem Gegenüber. Diese Erfahrungen und das Erleben hatten Auswirkung auf Art und Weise in Kontakt mit J. zu gehen, Beziehung herzustellen und die Zeit der Begegnung gemeinsam zu gestalten. Es wurden weniger bis gar keine oben genannte Unruhen mehr beobachtet. Verhalten konnte zunehmend schneller eingeordnet werden. Handelt es sich um bedrohliche Situationen die medizinisches Handeln erfordern oder wünscht sich J. Begleitung in seiner „Freizeit“, möchte J. Beziehung aufnehmen und Begegnung gemeinsam gestalten.

Die wechselseitige Gestaltung von Beziehungsebenen, am Du zum Ich und vom Ich zum Du und Erleben sinnerfüllter Selbstwirksamkeit, gilt im Konzept Basale Stimulation u.a. als wichtiges Puzzle für Entwicklungschancen.

Ergänzend möchte ich erwähnen: in diesem Beispiel wurde die Begleitung eines Kindes beschrieben, ebenso ist Begleitung in dieser Form bei Erwachsenen möglich. Hier erleichtert die Position im Querbett die Handhabung. Für Fragen und Austausch stehe ich gern zur Verfügung.

Weitere Informationen zum Konzept finden Sie unter www.basale-stimulation.de


Autorin: Elisabeth Wust, Praxisbegleiterin Basale Stimulation; ichdues, „Pflegetherapeutische Praxis beraten begleiten schulen“ und Geschäftsstelle – Weiterbildung Basale Stimulation®; wust@ichdues.de

Aufmacherfoto: Adobe Stock/LIGHTFIELD STUDIOS