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Erfolgreicher Kampf gegen die Systemlücke

Schwerkrank in häuslicher Pflege – doch eine Coronaimpfung war für diesen Fall nicht vorgesehen. Nach hartem Kampf gegen behördliche Mühlen

Schwerkrank in häuslicher Pflege – doch eine Coronaimpfung war für diesen Fall nicht vorgesehen. Nach hartem Kampf gegen behördliche Mühlen kam es jetzt zu einer Einzelfallentscheidung und einer aktualisierten COVID-19-Impfempfehlung der Ständigen Impfkommission (STIKO) am Robert-Koch-Institiut (RKI).

Benni Over aus Niederbreitbach bei Neuwied (Rheinland-Pfalz) leidet an Duchenne-Muskeldystrophie (DMD). In Deutschland leben schätzungsweise rund 2000 Patienten mit dieser genetischen Muskelerkrankung. Der 30-Jährige ist in Pflegegrad 5 eingestuft, sitzt seit seinem zehnten Lebensjahr im Rollstuhl. Er kann nur noch seine Finger bewegen. Nach einem Herzstillstand ist Over seit über vier Jahren tracheotomiert, wird seitdem beatmet und von seinen Eltern Connie und Klaus zu Hause gepflegt.

Seit einem Jahr in Quarantäne

Seit Ende Februar ist Familie Over in selbst auferlegter Quarantäne und verzichtet auf jegliche Pflegehilfe von außen, um die Möglichkeit einer Coronainfektion zu minimieren. Mit seinen Therapeuten trat Benni per Videokonferenz in Kontakt. Vor der Pandemie kam ein ambulanter Intensiv-Pflegedienst bis zu zehn Stunden täglich ins Haus. Die einzige Person außerhalb der Familie, die nun das Haus betrat, war ein Arzt. Der wurde zuletzt gebraucht, weil es in Bennis Luftröhre zu einer Blutung kam. Ein Vorfall, der normalerweise zu einem stationären Klinikaufenthalt geführt hätte. Doch die Gefahr der Ansteckung war den Overs zu hoch.

Erst Hilferuf, dann Hilfeschrei

Als sich Ende des Jahres die ersten Termine zur Coronaschutzimpfung ankündigten, wuchs bei Benni und seinen Eltern die Gewissheit, dass diese extremen Verhältnisse in wenigen Wochen vorbei sein würden. Entsprechend groß war der Schock über die Gewissheit: Beatmungspatienten in häuslicher Pflege tauchen in der Coronavirus-Impfverordnung überhaupt nicht auf. Die Regelung ermöglicht für Benni eine Impfung erst, nachdem alle priorisierten Gruppen versorgt sind. Es handelte sich schlicht um eine Lücke im System. Für Familie Over ein unglaublicher Umstand, gegen den sie sich mit großer Hartnäckigkeit wehrten. „Aus einem Hilferuf wurde ein Hilfeschrei“, beschreibt Klaus Over die Situation. „Wir haben uns an Abgeordnete auf Landes- und Bundesebene gewandt, bis hin zu Bundesgesundheitsminister Jens Spahn. Politiker aus verschiedenen Bundesländern traten daraufhin in den Dialog. Der Austausch war parteiübergreifend.“ Hilfreich sei es sicherlich gewesen, dass Benny in der Öffentlichkeit kein Unbekannter ist. Seit langem engagiert er sich für den Klimaschutz und den Erhalt der Orang-Utans. Mit seinem weltweiten Engagement ist er regelmäßig in den Medien präsent. Letztendlich setzte sich die Meinung von Experten wie Eugen Brysch, Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, durch, dass zunächst Pflegebedürftige und Schwerstkranke die Chance auf eine Impfung bekommen müssten.

Die STIKO korrigiert

Am 8. Januar hat die STIKO eine erste Aktualisierung der COVID-19-Impfempfehlung beschlossen. Darin heißt es: „Bei der Priorisierung innerhalb der COVID-19-Impfempfehlung der STIKO können nicht alle Krankheitsbilder oder Impfindikationen berücksichtigt werden. Deshalb sind Einzelfallentscheidungen möglich. Es obliegt den für die Impfung Verantwortlichen, Personen, die nicht explizit genannt sind, in die jeweilige Priorisierungskategorie einzuordnen. Dies betrifft zum Beispiel Personen mit seltenen, schweren Vorerkrankungen, für die bisher zwar keine ausreichende wissenschaftliche Evidenz bezüglich des Verlaufes einer COVID-19-Erkrankung vorliegt, für die aber ein erhöhtes Risiko angenommen werden kann.“ Aufgrund einer Einzelfallentscheidung erhielt Benni Over auf Geheiß der rheinland-pfälzischen Landesregierung seine Impfung bereits am 7. Januar.

Ende gut, alles gut? Klaus Over verneint: „Diese Aktualisierung der Impfempfehlung kann nur ein erster Schritt sein, damit die häusliche Pflege zukünftig an all jenen Verordnungen partizipieren kann, welche bereits für die stationäre Pflege gelten. Denn schon bei der Schnelltestverordnung wie auch bei der Maskenverordnung ist die häusliche Pflege wie dann auch bei der Impfverordnung durch den Rost gefallen.“

Über Benni Overs Kampf um eine frühe Impfung gegen COVID-19 wurde bereits in einem Bericht des SWR sowie verschiedenen selbstgedrehten Videos berichtet:

 


Autor: Jan Hetebrügge, Redaktionsbüro Jan Hetebrügge, Hannover

Bild: Privat