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Neue Erkenntnisse über Wachkoma

Noch vor einigen Jahren galt die Annahme, dass Menschen im Wachkoma „nichts mitbekommen“. Dies wird leider an die Angehörigen weitergegeben, so dass auch diese wie das therapeutische Team über den Betroffenen, aber wenig mit ihm sprechen.

Noch vor einigen Jahren galt die Annahme, dass Menschen im Wachkoma „nichts mitbekommen“. Dies wird leider an die Angehörigen weitergegeben, so dass auch diese wie das therapeutische Team über den Betroffenen, aber wenig mit ihm sprechen.

Von Gerhard Schröder

Die Deutsche Gesellschaft für klinische Neurophysiologie und funktionelle Bildgebung (DGKN) schätzt, dass in Deutschland rund 5.000 Menschen im sogenannten Wachkoma leben. Das Gesundheitszentrum Main-Spessart geht von mindestens 10.000 Betroffenen in Deutschland aus. Zehntausende sind es nach der Zeitschrift Spiegel, genauer 15.000 bis 30.000. Bisher sollte die korrekte Diagnose „Wachkoma“ durch die Verwendung einer Bewusstseinsskala erfolgen. Doch die Praxis sieht anders aus: In nur fünf Prozent der Fälle wurde eine spezielle Skala wie die CRS-R benutzt. Ohne die Verwendung der Skala liegt jedoch laut DGKN in 40 Prozent der Fälle eine Fehldiagnose vor.

Die Bewusstseinsskala CRS-R

Es gibt zahlreiche sehr unterschiedliche Skalen zur Messung des Bewusstseins. Seit einigen Jahren wird die CRS-R Skala für die Diagnose und den Verlauf bei Menschen im Wachkoma empfohlen und eingesetzt. Die Abkürzung CRS-R steht für „Coma Recovery Scale – Revidierte Version“ und stammt aus dem Jahre 2008. Sie liegt in deutscher Übersetzung vor und kann im Internet unter Eingabe des Namens schnell gefunden werden, zum Beispiel vom SRH Fachkrankenhaus Neresheim. Mit der CRS-R werden systematisch die akustischen, visuellen, motorischen und verbalen Reaktionen auf Reize sowie der Aktivierungsgrad des Nervensystems erfasst und beurteilt. Es gibt eine ausführliche Anleitung zur richtigen Benutzung der Skala. Neben einem Punktesystem zur Auswertung werden auch Hinweise zur Intervention gegeben, um die Wachheit zur fördern.

So zum Beispiel folgende Übung: „Stimulieren Sie die Muskulatur des Patienten durch festen Druck auf das Gesicht, den Nacken, die Schultern, die Arme, die Hand, die Brust, den Rücken, die Beine, die Füße und die Zehen einer Körperhälfte. Die Muskeln sollten an ihrem unteren Ende fest zwischen Daumen und Zeigefinger zusammengedrückt werden. Während der Muskel fest zusammengedrückt wird, sollte er drei- bis viermal zwischen den Fingerspitzen hin und her gerollt werden. Diese Prozedur sollte sequenziell vom Gesicht bis zu den Zehen wiederholt werden. Der Untersuchende sollte sich vor der Durchführung der Maßnahme versichern, dass keine Gefäßzugänge, lokalen Verletzungen (zum Beispiel Frakturen, Dekubitus) oder systemischen Komplikationen vorliegen. Die gleiche Methode wird auf der anderen Körperhälfte durchgeführt.“ (aus: CRS-R Skala Deutsche Version 2010, Petra Maurer-Karattup, SRH Fachkrankenhaus Neresheim)

Die Skala verbessert die Diagnosestellung bei Menschen im Wachkoma und kann wesentlich differenzierter „Verbesserungen“ feststellen. Dadurch kann eine verbesserte Therapie und vor allem Förderung des Bewusstseins der Betroffenen gefunden werden.

Wichtige Unterscheidung

Denn Wachkoma ist nicht gleich Wachkoma. Seit Jahren ist bekannt, dass bei einigen Patient:innen eine Verbesserung der Wahrnehmung möglich ist, bis hin zu einer Rückkehr ins Leben. Man bezeichnet diese Wachkoma-Zustände als „minimaler Bewusstseinszustand“ (minimal conscious state), der eben eine Erholung nicht ausschließt. Bei diesen Patient:innen sollten eine individuelle Förderung und Stimulation immer durchgeführt werden. Dagegen sind wohl nur wenige Menschen in dem irreversiblen „vegetativen Zustand“ (vegetative state).

Die CRS-R Skala kann dabei helfen, diese beiden Zustände zu unterscheiden, denn die Konsequenzen können erheblich sein – bis hin zur Freigabe eines Betroffenen zur Entnahme von Organen.

Was tun?

Es wäre viel erreicht, wenn die CRS-R Skala im Alltag mehr verwendet wird, denn ihre Anwendung ist weitaus weniger aufwendig, als man meint.

Grundsätzlich sollte jedoch immer erstmal davon ausgegangen werden, dass das Wachkoma reversibel ist, und die Kommunikation mit dem Betroffenen konsequent beibehalten werden. Neuere Studien der Coma Science Group der Universität Lüttich haben jetzt ein Verfahren getestet, das der CRS-R Skala sogar noch überlegen zu sein scheint: Es besteht in einer ausgedehnten Ableitung des EEG mit mehr als 250 Elektroden und bildgebenden Verfahren wie das fMRT. In den ersten Studien haben ca. 17 Prozent der Wachkoma-Patient:innen typische Aktivierungsmuster gezeigt, die auch bei gesunden Menschen auftreten. Teilweise war sogar eine einfache Kommunikation mit den Patient:innen möglich. In einer aktuellen Studie reagierten drei von 16 Wachkoma-Patient:innen auf verbale Aufforderungen, die mit der CRS-R Skala nicht erfasst wurden. In kurzer Zeit ist nicht zu erwarten, dass bildgebende Verfahren aufgrund der hohen Kosten in der Diagnostik eingesetzt werden, aber man empfiehlt deshalb die Verwendung des differenzierten EEGs.

Bild: Adobe Stock/Coloures-Pic