Management FB

Recht: Urlaubsanspruch und lange Krankheit

Der Europäische Gerichtshof hat sich mit der Frage beschäftigt, ob ein Arbeitgeber auf einen Verfall von Urlaubstagen nach langer Krankheit hinweisen muss.

Judge gavel and stethoscope with pills. The law in medicine, the sentence on medical negligence Judge gavel and stethoscope with pills. The law in medicine, the sentence on medical negligence

Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) verfallen gesetzliche Urlaubsansprüche bei fortdauernder Arbeitsunfähigkeit 15 Monate nach dem Ende des Kalenderjahres, in welchem der Urlaubsanspruch erworben wurde. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hatte sich nun mit der Frage zu beschäftigen, ob Bedingung hierfür ist, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmer zuvor auf diesen Verfall hingewiesen hat.

Die Rechtslage bis zur Entscheidung des EuGH

Im Jahr 2018 hatte der EuGH bereits entschieden, dass Urlaubsansprüche bei Nichtinanspruchnahme durch den Arbeitnehmer nicht automatisch verfallen. Das Gericht urteilte, dass ein Verfall nur dann in Betracht komme, wenn der Arbeitnehmer tatsächlich in die Lage versetzt werde, seine Urlaubstage rechtzeitig zu nehmen. Dies zu gewährleisten, sei Aufgabe des Arbeitgebers (EuGH, Urt. v. 06. November 2018 – C-684/16).
Mit seiner Entscheidung vom 19. Februar 2019 (Az.: 9 AZR 541/15) konkretisierte das BAG die EuGH-Rechtsprechung. Ein Verfall von Urlaub kann demnach in der Regel nur dann eintreten, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer zuvor rechtzeitig über seinen konkreten Urlaubsanspruch und die Verfallfristen belehrt und der Arbeitnehmer den Urlaub dennoch aus freien Stücken nicht genommen hat. Das Gesetz zwinge den Arbeitgeber zwar nicht, dem Arbeitnehmer von sich aus Urlaub zu gewähren. Allerdings obliege dem Arbeitgeber die Initiativlast für die Verwirklichung des Urlaubsanspruchs, so das BAG.
Ob die Hinweispflicht des Arbeitgebers auch dann gelte, wenn der Arbeitnehmer über einen längeren Zeitraum durchgehend arbeitsunfähig war, und aufgrund der Arbeitsunfähigkeit nicht genommener Urlaub bei unterbliebenem Hinweis des Arbeitgebers verfalle, war nun vom EuGH zu entscheiden.

Der Fall

Die in einem Krankenhaus beschäftigte Klägerin war aufgrund einer im Jahr 2017 eingetretenen Erkrankung durchgängig arbeitsunfähig und konnte somit 14 Urlaubstage für das Jahr 2017 nicht in Anspruch nehmen. Ihr Arbeitgeber hatte sie weder aufgefordert, ihren Urlaub zu nehmen, noch darauf hingewiesen, dass nicht beantragter Urlaub mit Ablauf des Kalenderjahres oder des Übertragungszeitraums verfalle. Die Klägerin begehrte Feststellung, dass ihr 14 Tage bezahlter Urlaub aus dem Jahr 2017 zustehen. Sie machte geltend, ihr Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub sei wegen ihrer fortbestehenden Arbeitsunfähigkeit nicht am 31. März 2019 erloschen, da ihr Arbeitgeber es unterlassen habe, sie rechtzeitig auf den drohenden Verfall der Urlaubstage hinzuweisen.
Der Arbeitgeber machte geltend, dass der Anspruch des Klägers auf bezahlten Jahresurlaub für das Jahr 2017 nach Ablauf des vom BAG festgelegten Übertragungszeitraums von 15 Monaten am 31.03.2019 erloschen sei. Der Urlaubsanspruch eines Arbeitnehmers, der aus gesundheitlichen Gründen lang andauernd außerstande sei, seinen Urlaub zu nehmen, verfalle nach Ablauf des Übertragungszeitraums unabhängig davon, ob der Arbeitgeber seiner Obliegenheit, dem Arbeitnehmer die Inanspruchnahme dieses Urlaubs zu ermöglichen, nachgekommen sei.

Die Entscheidung des EuGH

Der EuGH urteilte nun (Urt. v. 22. September 2022 – C-727/20), dass ein erworbener Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nach Ablauf des Bezugszeitraums und/oder eines im nationalen Recht festgelegten Übertragungszeitraums nicht erlöschen kann, wenn der Arbeitnehmer nicht in die Lage versetzt worden sei, seinen Urlaub zu nehmen. Die zeitliche Begrenzung der Übertragung von Urlaubsansprüchen, die wegen fortdauernder Arbeitsunfähigkeit nicht genommen werden konnten, auf 15 Monate nach Ablauf des entsprechenden Kalenderjahres könne, so der EuGH, nicht auf den Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub angewandt werden, der im Lauf eines Bezugszeitraums erworben wurde, in dem der Arbeitnehmer tatsächlich gearbeitet hat bevor er arbeitsunfähig wurde, ohne dass geprüft worden sei, ob der Arbeitgeber den Arbeitnehmer rechtzeitig in die Lage versetzt habe, diesen Anspruch geltend zu machen. Eine solche Situation liefe darauf hinaus, den Urlaubsanspruch des Arbeitnehmers inhaltlich auszuhöhlen. Bei Eintritt der Arbeitsunfähigkeit im laufenden Urlaubsjahr komme ein Verfall für den Urlaubsanspruch aus diesem Jahr nur in Betracht, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer zuvor über den Urlaubsanspruch unterrichtet habe.
Dies gelte auch dann, wenn der Arbeitnehmer eine Rente wegen voller, aber nicht dauerhafter Erwerbsminderung beziehe und deswegen seinen Urlaub nicht nehmen konnte, urteilte der EuGH in einer Parallelentscheidung vom 22. September 2022 (Az.: C-518/20).

Die Auswirkungen der Entscheidung auf die Praxis

Konnten Arbeitgeber bislang noch davon ausgehen, dass Arbeitnehmer bei andauernder Arbeitsunfähigkeit nicht grenzenlos Urlaubsansprüche ansammeln können, so gilt dies nun nicht mehr uneingeschränkt. Vielmehr ist, um einen Verfall der erworbenen Urlaubsansprüche herbeizuführen, nunmehr ein aktives Zutun des Arbeitgebers erforderlich. Andernfalls verjährt aufgrund von Arbeitsunfähigkeit nicht genommener Urlaub nicht.
Sollten Arbeitgeber infolge der Entscheidung des EuGH aus dem November 2018 noch nicht dazu übergegangen sein, ihre Mitarbeiter rechtzeitig vor Ablauf eines Kalenderjahres individuell über deren noch bestehende Resturlaubsansprüche zu informieren, diese zur Inanspruchnahme des Urlaubs aufzufordern und auf den drohenden Verfall des Urlaubs hinzuweisen, so sollte dies nun dringend umgesetzt werden.


Aufmacherbild: Adobe Stock / adragan