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Sozialgericht: Erholungszeit für Eltern ist Pflicht

Das Sozialgericht München hat mit Beschluss vom 23. April 2020 (Az.: S 15 KR 393/20 ER) entschieden, dass auch die

Das Sozialgericht München hat mit Beschluss vom 23. April 2020 (Az.: S 15 KR 393/20 ER) entschieden, dass auch die Überwachung bei ketogener Ernährung Behandlungspflege sein kann. Beim Umfang der für Kinder zu bewilligenden außerklinischen Intensivpflege ist zwingend auch die Erholungszeit der Eltern zu berücksichtigen.

Inhaltsverzeichnis

Sachverhalt

Das 6-jährige Kind leidet am Dravet-Syndrom, einer genetischen Epilepsie, die zu einer Entwicklungsstörung des Gehirns variablen Ausmaßes führt. Diese Erkrankung ist mit dem erhöhten Risiko verbunden, plötzlich und unerklärlich zu versterben. Es zeigt insbesondere bei fieberhaften Infektionen prolongierte Krampfanfälle, die mit Desaturationen aufgrund unzureichender Atmung verbunden sind. Aus diesem Grunde wird das Kind mit einem krampflösenden Notfallmedikament versorgt. Bis zum Eintreffen des Notarztes ist der Einsatz eines Ambu-Beutels zur Beatmung und eine Sauerstoff-Applikation notwendig. Die Mutter hat sich in Erste-Hilfe-Maßnahmen schulen lassen, sodass auch diese den Ambu-Beutel sachgerecht anwenden kann.

Ergänzend zu der elterlichen Versorgung ist speziellen Krankenbeobachtung durch einen Kinderintensivpflegedienst beantragt, insbesondere während der Betreuung im integrativen Kindergarten. Aus medizinischer Sicht ist außerdem zur Verringerung der Anfallsfrequenz eine ketogene Ernährung erforderlich, die durch eine Fachkraft übernommen wird.

Die Krankenkasse verweigerte sodann die Fortführung der Behandlungspflege, nachdem diese bisher im Umfang von 60 Wochenstunden bewilligt wurde. Anspruchsvoraussetzung für eine spezielle Krankenbeobachtung sei, dass mindestens einmal täglich eine lebensbedrohliche Situation auftreten würde, die eine sofortige ärztliche/pflegerische Intervention erforderlich machen würde. Der MDK habe die Voraussetzungen für eine spezielle Krankenbeobachtung nicht bestätigt. Aus den Unterlagen habe sich ergeben, dass in der gesamten Dokumentationszeit lediglich zwei Anfälle aufgetreten seien, die einer Intervention bedurft hätten. Auch der Krankenhausentlassungsbericht habe bestätigt, dass lediglich einmal bis zweimal monatlich interventionsbedürftige Ereignisse aufgetreten seien. Die ketogene Diät sei keine krankenpflegerische Maßnahme. Im Vordergrund stehe ein Hilfebedarf bei der Grundpflege. Dieser werde über die Einstufung in einem Pflegegrad berücksichtigt. Derzeit werde Pflegegeld bezogen. Zur Entlastung könnten anstelle des Geldes Sachleistungen in Anspruch genommen werden. Im Übrigen könne der Kindergarten coronabedingt derzeit ohnehin nicht besucht werden.

Entscheidung

Das Sozialgericht München verpflichtete daraufhin die Krankenkasse zur vorläufigen Weiterbewilligung der verordneten speziellen Krankenbeobachtung. Bei summarischer Prüfung habe das Kind weiterhin Anspruch auf Behandlungspflege nach § 37 Abs. 2 S. 1 SGB V. Es sei eine durchgehende Kontrolle erforderlich, um lebensgefährliche Komplikation zu vermeiden. Jederzeit – auch im Kindergarten – könnten Anfälle auftreten, die einer adäquaten Hilfe und Stoffwechselmessung bedürfen. Hierfür sei medizinisch ausgebildetes Fachpersonal notwendig.  Das Personal des Kindergartens sei mit der Betreuung des spezifischen Krankheitsbildes überfordert, so dass das Kind in der Konsequenz den Kindergarten nicht mehr besuchen könnte. Dies würde aber wiederum ihre psychosoziale und motorische Entwicklung hemmen. Nach allem ergebe sich die medizinische und faktische Notwendigkeit der Betreuung im Kindergarten durch ausgebildetes Krankenpflegepersonal. Nicht nachzuvollziehen sei, dass aufgrund von Anfallsfreiheit die Notwendigkeit der Betreuung nicht mehr bestehen würde. Erst kürzlich sei ein lebensgefährlicher, intensivmedizinisch behandlungsbedürftiger Infektzustand mit starker Anfallstätigkeit aufgetreten. Rechtlich nicht erforderlich sei es, dass diese Anfälle tatsächlich täglich auftreten, ausreichend sei, dass sie mit einer hinreichend großen Wahrscheinlichkeit täglich auftreten können. Denn eine behandlungspflegerische Maßnahme ist die Notwendigkeit der ständigen Beobachtung eines Patienten, um jederzeit medizinisch-pflegerisch eingreifen zu können. Diese Voraussetzungen liegen vor.

Daher könne auch die Argumentation der Krankenkasse unter Verweis auf Pos. 24 der Anlage 1 zur HKP-RL nicht verfangen. Denn erforderlich ist danach, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit sofortige pflegerische/ärztliche Interventionen bei lebensbedrohlichen Situationen täglich erforderlich sind und nur die genauen Zeitpunkte und das genaue Ausmaß nicht im Voraus bestimmt werden kann. Diese Voraussetzungen seien hier nach summarischer Prüfung gerade erfüllt. Das versicherte Kind leidet unter einer schwerwiegenden genetischen Erkrankung, die fortlaufend eine ketogene Ernährung mit Kontrolle der wichtigen Parameter Blutzucker und Ketonkörper erfordert. Die Bereitstellung der ketogenen Ernährung mit Kontrolle sowie der ständigen Überwachung der anderen Körperparameter wie Körpertemperatur, um im notwendigen Umfang jederzeit, und damit selbstverständlich auch täglich, intervenieren zu können, sei eine behandlungspflegerische Aufgabe und nicht mit der normalen Bereitstellung von gewöhnlicher Ernährung eines gesunden Kindes auch nur ansatzweise vergleichbar. Insbesondere sei diese Tätigkeit eine behandlungspflegerische Maßnahme, da sie Teil des medizinischen Behandlungskonzepts ist, die Anfallshäufigkeit und damit die Wahrscheinlichkeit zerebraler Schäden zu minimieren, und nicht Grundpflege.

Geradezu zynisch klinge es, wenn die Krankenkasse ausführt, dass das Kind in den letzten 4 Jahren “nur” 95 epileptische Anfälle gehabt habe und dabei geflissentlich ignoriert, dass diese Anfälle trotz ketogener Ernährung und ständiger Beaufsichtigung erfolgten. Da die ketogene Ernährung das erfolgversprechendste Behandlungskonzept einer an sich unheilbaren Erkrankung ist, ist die schlechtere Kontrolle dieser Ernährung durch fehlende Behandlungspflege geradezu Garant für eine gravierende gesundheitliche Verschlechterung der Antragstellerin. Damit sei aber gerade das Kriterium, das die Krankenkasse selbst vorträgt, erfüllt, dass für die spezielle Krankenbeobachtung eine so konkrete Gefahr vorliegt, dass vernünftigerweise täglich damit gerechnet werden muss, dass eine lebensbedrohliche Situation eintritt.

Weiter notwendig sei auch die Ermöglichung der Erholung der Mutter als Hauptpflegeperson, insbesondere durch Gewährleistung von ausreichendem Nachtschlaf. Zwar komme die Behandlungspflege insoweit dem Kind nur mittelbar zugute, da Hauptzweck die Erholung der Hauptbetreuungsperson ist. Allerdings sei diese mittelbare Komponente nicht weniger wichtig. Das Kind sei psychosozial und emotional in erheblichem Ausmaß auf die pflegerischen und emotionalen Ressourcen ihrer Mutter angewiesen. Sollte es zu einer psychischen Erkrankung der Mutter aufgrund Überforderung (sogenanntes Burnout-Syndrom) kommen, so wäre das Kind die Hauptleidtragende. Weder wäre dann eine ausreichende ärztliche und physio-/ergotherapeutische Betreuung noch eine konsequente Fortführung der ketogenen Diät als Hauptsäule der Behandlung der Erkrankung gegeben.

Im Übrigen seien die HKP-Richtlinien nach den Vorbemerkungen Empfehlungen für den Regelfall, von denen in begründeten Fällen abgewichen werden kann. Abweichungen können insbesondere in Betracht kommen auf Grund von Art und Schwere des Krankheitsbildes, der individuellen Fähigkeiten und Aufnahmemöglichkeiten des Umfeldes. Insbesondere bei der Pflege von Kindern kann es erforderlich sein, die Maßnahmen schrittweise zu vermitteln und häufiger zu wiederholen. Die Leistungsfähigkeit des Umfeldes, hier der Mutter, sei mithin zu berücksichtigen.

Daher sei von Seiten der Krankenkasse zu gewährleisten, dass mit dem Ende der Corona-bedingten Schließung des Kindergartens die bisherige krankenpflegerische Betreuung weitergeführt wird. Gerade für die Zeit bis zur Öffnung des Kindergartens benötige die Mutter Erholung, da die Hauptlast der Kinderbetreuung nun in einem hohen Ausmaß auf der Mutter lastet, verstärkt noch durch die Angst und Sorge, dass die vorbelastete Antragstellerin eine Corona-ausgelöste Lungenentzündung erleidet.


Autor: Dr. Johannes Groß, Fachanwalt für Sozialrecht, Berger Groß Höhmann & Partner Rechtsanwälte,
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Autorenfoto: Stephan Pramme