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Überleben in der 1:1 Intensivpflege

Wenn Angehörige für uns Pflegefachkräfte die größere Herausforderung sind – und wie wir Pflegefachkräfte damit umgehen können, ja müssen. Ein

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Wenn Angehörige für uns Pflegefachkräfte die größere Herausforderung sind – und wie wir Pflegefachkräfte damit umgehen können, ja müssen. Ein kurzer Einblick ins unsere Auseinandersetzung mit diesem Thema.

Von Yves Michaelis, Geschäftsführer im Born Gesundheitsnetzwerk

Wer sind wir? Vier Intensivpflegedienste im Born Gesundheitsnetzwerk decken das Spektrum der außerklinischen Intensivpflege ab, 1:1 für Kinder und Erwachsene, sowie in Wohngemeinschaften. Wir sind in drei Bundesländern mit ca. 350 Kolleginnen tätig. In 2010 gestartet sind wir ausschließlich organisch gewachsen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, kennen Sie das? Als Intensivpflegeprofi von der Intensivstation in die häusliche Intensiv – 1:1 – Pflege wechseln (endlich mehr Zeit für Pflege), mit Fachexpertise, Berufserfahrung (schon alles gesehen und erlebt), Engagement und dem echten Anspruch, den Patienten zu Hause zu helfen.

Und mit all diesem Schwung, guten Absichten und Leidenschaft für Intensivpflege in den ersten zehn Diensten in einen dicken Konflikt mit den Angehörigen bzw. der Familie gelangen und sich in der Folge von vermeintlich sinnlosen Diskussionen mit der Familie bis hin zum Hausverbot hoch zu schaukeln?

Warum tue ich mir das als Pflegefachkraft, als echter Profi, an? Drei Jahre Ausbildung, dazu Weiterbildungen und 15 Jahre Berufserfahrung – und am Ende wissen die Laien aus der Familie alles besser. Sollen die doch bitteschön ihren Angehörigen dann eben selber pflegen.

Ja, solche Szenen sind uns nicht unbekannt, haben wir selbst auch mehrmals erlebt. Und uns wurde zügig klar, dass ein Fachwissen in der Intensivpflege hilft, um nicht als: „Der hat ja keine Ahnung“ dazustehen, jedoch nicht ausreicht, um: „Sie sind eine gute Pflegefachkraft“ zu hören. Was war es, das da fehlte?

Es ist wohl unstrittig, dass kein anderes Setting in der Pflege der außerklinischen Intensivpflege in der Häuslichkeit ähnelt. Acht bis zwölf Stunden verbringen wir in der Wohnung unserer Kunden. Ohne Unterbrechung, mitten drin im Familienleben – das allerdings nicht unseres ist. Wer sind wir da eigentlich? Familienmitglieder sicher nicht, Freunde, Bekannte? Auch nicht. Gäste? Naja, wirklich eingeladen sind wir auch nicht. Untermieter? Nein, auch nicht. Wir sind Dienstleister, die immer, ja wirklich immer, da sind.

Perspektivwechsel Kunde: Nun, ich habe gerne Freunde bei mir zu Besuch. Ich freue mich auch, wenn sie nach ein paar Tagen wieder fahren und ich mein Familienleben in privater Atmosphäre weiterleben kann. Das ein (Pflege-)Dienstleister sich rund um die Uhr in meiner Wohnung aufhält, mitten drin in unserem Familienleben und ich mir noch nicht einmal jeden dieser Menschen aussuchen kann, der die Dienstleistung erbringt – allein der Gedanke daran stresst mich jetzt schon. Kann ich entspannt zur Arbeit gehen, wenn ein mir unbekannter Handwerker in meiner Wohnung tätig ist, während meine (abhängigen) Familienmitglieder allein zu Hause bleiben?

Perspektivwechsel Pflegefachkraft: Ich als Pflegefachkraft verbringe ca. 160 – 170 Stunden jeden Monat als Dienstleister in einer fremden Wohnung mit eigentlich fremden Menschen. Wann habe ich das letzte Mal so viel Zeit mit meiner Familie aktiv verbracht? Das wird zur Herausforderung. Und diese Herausforderung betrifft beide Seiten! Und genau da liegt reichlich Potential für Konflikte.

Wie sind wir das angegangen?

Schon länger, allerdings noch nicht mit großer Durchdringung in der außerklinischen Intensivpflege, gibt es zum Thema „Familienzentrierte Pflege“ Literatur und wissenschaftliche Untersuchungen durch René Limberger. René ist Pflegeprofi und ebenso Sozial- und Pflegewissenschaftler.

Nach einer Auseinandersetzung mit diesem Thema und mehreren inhouse Workshops mit René sind wir strukturiert vorgegangen. Seit 2016 nehmen alle Pflegefachkräfte unserer Intensivpflegedienste an mehrtägigen Workshops teil. Diese Workshops finden monatlich statt.

Dort gibt es eine erste Berührung und auch Auseinandersetzung mit der systemischen Sichtweise und Interventionen, die an echten Fallbeispielen erprobt werden. Aufstellungsarbeiten, Genogrammarbeit, eine erste Begegnung mit der positiven Psychologie, Transaktionsanalyse, wie auch die Gewaltfreie Kommunikation sind Bestandteile. Unser Anspruch ist dabei nicht der Konsum von Informationen, sondern vielmehr eine Plattform zu schaffen, um sich mit diesen Themen bewusst auseinander setzen zu können.

„Grundannahmen der FZP“

  • Krankheit ist immer eine Familienangelegenheit
  • Beziehungsaufbau ist die erste pflegerische Intervention
  • Systemische Grundhaltung
  • Familien sind die Experten für Ihre Situation

Und ja, diese Workshops stellen häufig eine echte Herausforderung für die Kolleginnen dar, weil mit alten Mustern gebrochen, der Perspektivwechsel eingeübt und somit die „Wahrheit“ als solches über Bord geworfen wird.

Und sehr häufig ist nach zwei Tagen im Workshop den Anwesenden klar, die Familie der Kunden ist wie sie ist – und, dass unser häufiger Wunsch, dass die Familienangehörigen sich ändern müssen, fehlschlägt, ja, nur fehlschlagen kann. Und somit kommt es auf uns Pflegefachkräfte an. Wir haben die Möglichkeit und Kompetenz, anders damit umzugehen. Es fängt also bei und mit uns an. Das ist auf der einen Seite anstrengend, auf der anderen Seite versetzt uns das in Handlungsfähigkeit, steigert unsere Selbstwirksamkeit. Übrigens, das veränderte Bewusstsein kommt anschließend nicht nur im beruflichen Kontext zum Tragen.

Was kommt dabei rum?

Nun, wir haben einen sehr deutlichen Rückgang an Eskalationen in der häuslichen Intensivpflege. Wir haben seit Jahren keine Kündigung auf Grund von unüberwindbaren Meinungsverschiedenheiten von Kunden mehr. Unsere Pflegefachkräfte sind seltener krank auf Grund psychischer Belastungen.

Ihre Einschätzung, wie sie acht bis zwölf Stunden in einer fremden Familie überstehen, hat sich deutlich verändert. Nämlich weg vom „Überleben“, hin zum „bewusst Erleben und Gestalten“.

Übrigens, auch unsere toughen Pflegefachkräfte, die zuvor auf Intensivstationen arbeiteten, haben damit Empathie und Verständnis für die Angehörigen und Familien entwickelt und sind begeistert in der außerklinischen Pflege unterwegs.

Und ja, es bedarf natürlich regelmäßiger Lernschleifen. Nein, nicht alles ist Gut. Und die Anwesenheit von Konflikten ist ja auch normal – entscheidend ist der Umgang mit ihnen. Und das ist eine Übungssache.

Wie geht es weiter?

Wir haben ein Modellprojekt entwickelt und sind damit gestartet. Unter wissenschaftlicher Begleitung haben wir mehrere Pflegefachkräfte weitergebildet, um gute Familiengespräche durchführen zu können. Hier geht es uns ausdrücklich nicht um Familientherapie, sondern vielmehr darum, Familienangehörige in ihrer Resilienz zu stärken. Durch psychosoziale Unterstützung befähigen wir Familienangehörige, ihre Ausnahmesituation als etwas zu begreifen, dass nun zum alltäglichen Leben gehören wird, also Alltag bedeutet. Und wie unter diesen Umständen ein Sinnerleben stattfinden kann, Beziehungen gestaltet und gepflegt werden können, eine Abgrenzung im Sinne von Privatsphäre möglich wird und ein Kontrollerleben in ihrer Situation möglich wird.

Wir verstehen uns dabei als Angebotskellner. Wir bestimmen nicht, was „richtig“ ist, sondern die Familienangehörigen wählen aus. In dem für sie passenden Umfang und Ausmaß.

Was haben wir davon?

Wir erweitern unseren Blick von Krankheit und Fokussierung auf den Patienten – gerade, weil Krankheit immer eine Familienangelegenheit ist. Wir stärken mit diesem Modellprojekt die Familienangehörigen! Aus diesem Setting heraus werden Angebote und Vereinbarungen über Rückzugspflege deutlich früher und belastbarer erfolgen können.

Unsere Kolleginnen erleben sich als Gestalter von Beziehungen und erleben sinnhafte Arbeit. Sie werden sich bewusster, wann sie einen guten Job machen, unabhängig von den Rückmeldungen der Kunden und Angehörigen. Ja, es macht uns professioneller und stärkt auch das Berufsbild der Pflege.

Ich als Pflegefachkraft gestalte meine Arbeit und erlebe das als konkret sinnhaftes Arbeiten. Ich erlebe mich als selbstwirksam und fühle mich intrinsisch verantwortlich. Dies zahlt auch auf unsere Vision ein.

Gern stehen wir hier für Beratung oder Begleitung auch anderen Pflegediensten zur Verfügung, sprechen Sie uns an.


Autor: Yves Michaelis, Geschäftsleitung, Intensivpflege Born Gesundheitsnetzwerky.michaelis@born-pflege.de

 

Aufmacherbild: Adobe Stock/alekseyliss